Efeu - Die Kulturrundschau

Wir checken es noch nicht, aber es ist so geil

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17.05.2024. Die FAZ ist stinksauer auf Juliane Liebert und Ronya Othmann, die peinliche Jury-Interna weitergegeben haben. In der SZ meint Nele Pollatschek: Wir sind alle Nutznießer von Identitätspolitik. In der FR sieht der Kunstwissenschaftler Harald Kimpel schon "die nächste Kasseler Krise" bei der documenta 16 aufziehen.Die Welt lässt sich in Dortmund mit Freuden in einen achronologischen Wagner-Kosmos entführen. Was Frausein am Theater bedeutet, überlegt die FR, die SZ fragt sich, ob das Alter bei Theaterintendantinnen eine wichtigere Rolle spielt als bei ihren männlichen Kollegen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 17.05.2024 finden Sie hier

Bühne

"Rheingold" in Dortmund. Foto: Thomas M. Jauck.

In "unorthodoxer Reihenfolge" hat Regisseur Peter Konwitschny Wagners "Ring" an der Oper Dortmund aufgeführt, nun setzt er mit dem eigentlichen Vorspiel "Rheingold" zum dritten Teil an - ein voller Erfolg, ruft Manuel Brug beglückt in der Welt. Konwitschny sei hier wieder zu Hochform aufgelaufen: "In Dortmund ist jeder Tetralogie-Teil sein eigener 'Ring'-Kosmos, eingebettet in Symposien sowie begleitende, zeitlich oder inhaltlich passende Opern. Eine wohltuend separierte, bescheiden-konzentrierte Erzählhaltung - gerade nach all den aktuell mehr oder weniger ratlosen, verquasten oder unterkomplexen Prestigedeutungen von Berlin bis Bayreuth, Brüssel bis London. Man kann sich also schon mal den Mai 2025 vormerken, wenn der dann 80-jährige Peter Konwitschny seine 25 Jahre junge 'Götterdämmerung' noch einmal aufleben lässt und dieser Pott-'Ring' sein vermutlich famoses Ende finden wird. Zum vierten Mal."

Laura Linnenbaum bringt am Schauspiel Frankfurt Dostojewskis "Die Brüder Karamasow" auf die Bühne - doch alle Rollen sind mit Frauen besetzt. Im Interview mit der FR erklärt Linnenbaum ihre geschlechtliche Perspektivierung:  "Das Patriarchat wird in diesem Roman bereits angezählt. Mit dem Vatermord, aber auch mit der Frage, ob es Gott gibt oder nicht. Auch der Landadel ist angezählt, das Patriarchat stirbt auf mehreren Ebenen. Dazu kommen die großen Fragen: Warum ist das Schlechte in der Welt, was ist der Mensch? Ich hatte die Vorstellung, das müsste heutzutage unbedingt einmal aus Frauenmund erzählt werden, um zu sehen, wie dieser Perspektivwechsel wirkt." Dabei spielt auch die eigene Erfahrung der Regisseurin als Frau im Theaterbetrieb eine Rolle: "Aus meiner Arbeitserfahrung heraus würde ich sagen, dass es immer noch eine Hürde ist zu beweisen, dass man seinen Job kann. Das läuft ganz unterbewusst ab bei den Leuten. Ich erinnere mich an eine Kantinenszene, als ich hier als Assistentin war. Ein Tisch Produktion mit einem Regisseur, ein Tisch Produktion mit einer Regisseurin. Alle waren wild am Diskutieren. Am Frauentisch: Jeden Tag ist alles anders, die weiß nicht, was sie will. Am Männertisch: Jeden Tag ist alles anders, keine Ahnung, wir checken es noch nicht, aber es ist so geil."

Der Vertrag von Sibylle Broll-Pape, Intendantin am E.T.A.-Hoffmann-Theater in Bamberg, wird nicht verlängert - weil sie eine ältere Frau ist? Das zumindest fragt sich Christine Dössel in der SZ: "Broll-Papes Ansicht, dass der Respekt vor dem Alter, vor allem vor alten Frauen, abgenommen habe, lässt sich schwer belegen. Aber dass sie kein einziges Folgeangebot als Regisseurin hat, ist Fakt. Sie würde in den nächsten Jahren schon gerne noch ein bisschen im Theater mitmischen, so wie das ja auch ihre männlichen Kollegen im Rentenalter tun. (…) Für Frauen gibt es solche Angebote selten. Broll-Pape weiß auch, warum: 'Weil Alter bei Männern keine Rolle spielt, bei Frauen aber schon.' Dabei ist doch im Theater die Zeit der Frauen angebrochen, oder etwa nicht? Es gibt immer mehr Intendantinnen, weibliche Leitungsteams, Regisseurinnen. An den Häusern wird Geschlechtergerechtigkeit eingefordert. Nur: Alte Frauen sind damit eher nicht gemeint. Junge Frauen sind jetzt zwar öfter in Leitungspositionen, aber sie holen auch wieder nur junge Frauen - und vor allem: Männer."

Weiteres: Lolita Lax und Jean Peters erhalten den Jürgen Bansemer und Ute Nyssen-Dramatikerpreis, meldet die FAZ. Die NZZ bespricht das Berliner Theatertreffen nach. Nach dem Tod von René Pollesch soll für die Volksbühne eine Interimslösung her, berichtet die Berliner Zeitung. Die Nachtkritik blickt anlässlich der Ruhrfestspiele nach Recklinghausen.
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Kunst

Der Kunstwissenschaftler und Documenta-Experte Harald Kimpel sieht schwarz für die documenta 16 - zumindest, was den geplanten zeitlichen Ablauf angeht, wie er im Interview mit Lisa Berins für die FR deutlich macht: "Früher oder später, eher früher, wird der Zeitpunkt kommen, an dem sich die Erkenntnis durchsetzt: Die Documenta 16 muss verschoben werden. Schon zwei Mal in sieben Jahrzehnten vorgekommen, wäre das auch diesmal institutionell problemlos zu verkraften. Es würde keinen Imageschaden hervorrufen, sondern zweifellos international als Einsicht in die Notwendigkeit honoriert werden. Und jedenfalls besser sein, als trotzig in die nächste Kasseler Krise zu steuern…" Aber auch mit den beschlossenen Neuerungen (unsere Resümees) ist er nicht zufrieden: "Ich würde für eine Rückbesinnung plädieren. Für die Rückkehr zu künstlerischen statt politischen Positionen. Die könnten und müssten selbstverständlich auch politische Themen behandeln, aber die Ausstellung selbst sollte mit ästhetischen Mitteln operieren. (…) Das Dilemma aber ist: Es scheint kein Zurück in eine unbelastete Vergangenheit zu geben, ebenso wenig ein Vorwärts in eine unbelastete Zukunft. Und nebenbei bemerkt: Menschen dazu zu bringen, einen Verhaltenskodex zu unterschreiben, in dem sie sich zur Menschenwürde bekennen, ist an sich schon ein Angriff auf die Menschenwürde."

Weiteres: Monopol fragt sich im Podcast, ob der Kunstmarkt schwächelt und interviewt Künstlerin und Mit-Gründerin Pola Sieverding zur Düsseldorfer Foto-Biennale.

Besprochen werden: "Contact Zones" im Frankfurter Museum Angewandte Kunst (FR) und "Sammlungseinsichten. Plakate ostdeutscher Grafikerinnen" im Dieselkraftwerk Cottbus (Tsp).
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Film

Das Filmfestival Cannes startet mit Filmen, die aktuelle Diskussionen um #metoo in den Blick nehmen, berichtet Tim Boehme für die taz: "Wie um das strukturelle Unrecht der Filmbranche symbolisch auszugleichen, erzählen die ersten Filme des Wettbewerbs von starken Frauen, die sich in ganz unterschiedlichen feindlichen Umgebungen behaupten müssen. 'Diamant brut' der französischen Regisseurin Agathe Riedinger folgt der jungen Liane (Malou Khebizi) durch ihren Alltag im verschlafenen Fréjus an der Côte d'Azur. Sie ist Instagrammerin, die in ihrem Account hauptsächlich ihren Körper thematisiert. Ihre Brüste hat sie schon machen lassen, sie überlegt, sich einen Brazilian Butt zuzulegen. Ihre Mutter ist arbeitslos, für das notwendige Geld klaut sie im Einkaufszentrum Parfum und Computerzubehör, das sie in der Nachbarschaft verhökert." "Furiosa: A Mad Max Saga" und "The Girl with the Needle" führt sich der Kritiker ebenfalls zu Gemüte und resümiert: "Gewalt ist keine Lösung, aber manchmal muss man sich trotzdem wehren."

Weitere Updates aus Cannes: David Steinitz feiert in der SZ Meryl Streep und den Actionfilm "Furiosa: A Mad Max Saga". In der FAZ berichtet Maria Wiesner aus Cannes über George Millers Mad-Max-Film "Furiosa", Agathe Riedingers "Diamant brut" und Judith Godrèches MeToo-Kurzfilm. Anke Leweke sah für Zeit online Francis Ford Coppolas "Megalopolis", in der Welt schreibt darüber Hanns-Georg Rodek.
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Stichwörter: Cannes, Cannes 2024

Literatur

In der FAZ ist Andreas Platthaus stinksauer über den Text von Juliane Liebert und Ronya Othmann, die peinliche Jury-Interna bei der Vergabe des Internationalen Literaturpreises des Berliner Hauses der Kulturen der Welt bekannt gegeben haben (unser Resümee). Inhaltlich argumentiert Platthaus nicht, als Skandal und Tabubruch empfindet er aber die Verletzung des Jurygeheimnisses. "Ungeachtet dessen, dass die beiden Whistleblowerinnen recht haben, wenn sie auf Einhaltung der Kriterien und den Primat literarischer Qualität pochen. Aber das hätten sie ja auch so unkonkret beschreiben können, wie es ihnen offenbar aus anderen Jurys zugetragen wurde. Stattdessen verschweigen sie zwar die Namen der fünf anderen Juroren (die natürlich sofort im Netz auffindbar sind), referieren aber deren Argumente für und wider einzelne Bücher, bei denen es teilweise ad personam ging, schädigen also neben der eigenen Jury auch noch Autoren. Bei der Beurteilung literarischer Qualität sind Form und Inhalt zu berücksichtigen - im Artikel von Liebert und Othmann ist der Inhalt brisant, aber die Form verfehlt."

Wir sind alle "Nutznießer von Identitätspolitik", ruft Nele Pollatschek in der SZ Ronya Othmann und Juliane Liebert entgegen, die die Preisvergabekriterien des HKW kritisiert hatten: "Ihr habt schon mitgedacht, dass es extrem unwahrscheinlich ist, dass eure Teilnahme in dieser Jury - die aus sieben Menschen bestand, von denen kein einziger ein deutscher Durchschnittsmann war - gänzlich ohne die Zuhilfenahme identitätspolitischer Kriterien vonstattenging. (...) Natürlich sind Liebert und Othmann geschlechtsunabhängig qualifiziert für eine Literaturpreis-Jury, einfach weil sie Bücher und Artikel (auch für die SZ) geschrieben haben. Aber natürlich wäre es ohne irgendeine Form der Identitätspolitik in den vergangenen 200 Jahren unwahrscheinlich, dass sie diese Qualifikationen hätten erwerben können. Wer die heute als Frau vorweisen kann, ist identitätspolitischen Aktivisten (Sufragetten, Utilitaristen und Liberalen, später Feministinnen) zu Dank verpflichtet." Das Haus der Kulturen hat die Kritik von Othmann und Liebert inzwischen zurückgewiesen, meldet Zeit online.

Der hierzulande plötzlich umstrittene Otfried Preußler wurde in seiner Heimatstadt, dem tschechischen Liberec, postum mit einer Medaille ausgezeichnet, berichtet Tilman Spreckelsen in der FAZ. Ihn hat nicht nur beeindruckt, dass bei der Verleihung das Leid der deutschen Vertriebenen ganz selbstverständlich anerkannt wurde. "Die Ehrung steht auch im harten Kontrast zu der Diskussion um Preußler in Deutschland, wo ein bisher nach ihm benanntes Gymnasium im bayerischen Pullach lieber nicht mehr so heißen möchte und zur Begründung anführt, der Autor habe sich nicht genügend von seiner NS-Vergangenheit distanziert und außerdem in seinem Werk Konflikte durch Zauberei und Gewalt gelöst. Mit dem kuriosen zweiten Argument hielt man sich in Liberec nicht weiter auf. Zur Frage der NS-Vergangenheit sagte Anna Knechtel vom Adalbert Stifter Verein München in ihrer Ansprache, sie beeindrucke gerade Preußlers 'Art, wie er sich über seine eigenen Fehler klar geworden ist. Krieg und mehrjährige Zwangsarbeit haben ihm die Augen geöffnet über das Dunkle, in das er hineingeraten war, als er als Jugendlicher Anhänger der NS-Ideologie war und begeistert in einen Vernichtungskrieg zog.'"

Weiteres: In der SZ schreibt Eckhart Nickel zu Kafka. Ebenfalls in der SZ erinnert Viktoria Großmann an die im KZ Ravensbrück ermordete Journalistin Milena Jesenská - Kafkas große Liebe. Lothar Müller (SZ) berichtet von der Crowdfunding-Kampagne des Merlin-Verlags, um den letzten Band der gesammelten Werke von Jean Genet herauszugeben. Die Schweizerin Fleur Jaeggy darf sich über den mit 30.000 Franken dotierten Gottfried-Keller-Preis freuen, die japanisch-österreichische Autorin Milena Michiko Flasar erhält den Evangelischen Buchpreis mit einer Dotierung von 5000 Euro, berichtet die FR. Im Tagesspiegel berichtet Gerrit Bartels von der Premiere von "Knife" im Deutschen Theater, bei der Salman Rushdie erzählte, warum er kaum anders konnte, als über das Attentat ein Buch zu schreiben. Besprochen werden u.a. Rocko Schamonis neuer Roman "Pudels Kern" (taz) und Ron Leshems Buch "Feuer. Israel und der 7. Oktober" (Welt).
Archiv: Literatur

Musik

Billie Eilishs drittes Studioalbum dreht sich um lesbischen Oralsex, Trennungsschmerz, kommt mit Balladen, aber auch dickem Bass daher - trotzdem wird Nadine Lange im Tagesspiegel nicht rundum glücklich: "Ambitionierte Klangkombinationen und überraschende Wendungen prägen einige der zehn neuen Lieder, wobei es mitunter - beispielsweise im zerfasernden 'Bittersuite' - so scheint, als seien Billie Eilishs Bruder Finneas beim Produzieren mal kurz die Pferde durchgegangen, ohne dass es den Song am Ende jedoch voranbringt. Beim fünfeinhalbminütigen 'L'amour De Ma Vie' lässt er eine dynamische Trennungsballade etwa in der Mitte in ein völlig neues Stück übergehen, das einen schnellen Technobeat mit Achtziger-Synthies und verzerrtem Gesang kombiniert. Inhaltlich hat dieser Shift allerdings Sinn, denn es geht darum, dass jemand nach dem Beziehungsaus schnell weitergezogen ist. Doch eigentlich hätte man auch gern ein komplettes Lied in dieser Aufmachung gehört oder wäre bei der Ballade geblieben."

Wir hören rein:



In der Welt fragt Andreas Rosenfelder, warum einen die Türsteher von Berliner Techno-Clubs plötzlich darüber belehren, dass sie "Pro-Palästina" sind. "Was sollte diese Mitteilung, die jedem neuen Gast wie eine Losung zugerufen wurde? Man muss sie wohl als Einlasskriterium interpretieren: Wer nicht widerspricht, stimmt der 'Pro-Palästina'-Haltung (was auch immer sich hinter der Formel verbirgt) stillschweigend zu. Wer hingegen ein Problem damit hat oder sich sogar als 'Pro-Israel' outet, hat im Club nichts verloren. ... Genau die 'pro-palästinensischen' Aktivisten, die bei jeder Ausladung über einen 'neuen McCarthyismus' klagen, haben unter Kulturschaffenden einen gnadenlosen Bekenntniszwang durchgesetzt, der an die paranoide Moskauer Kunstszene der Stalin-Ära erinnert, wo selbst ein richtiges Bekenntnis zur falschen Zeit in den Gulag führen konnte. Wie damals dient das symbolische Bekenntnistheater auch heute vor allem der Simulation von Politik."
Archiv: Musik
Stichwörter: Eilish, Billie